Unter dem Begriff Bibliotherapie können sich die meisten Menschen wenig bis gar nichts vorstellen. Manche assoziieren den Begriff mit der Bibel, was entwicklungsgeschichtlich richtig ist, da die Bibliotherapie von Pfarrern/Priestern begonnen wurde. Sie setzten Bibeltexte gezielt ein, um in verschiedenen belastenden Lebenssituationen heilsam auf die Gläubigen einwirken zu können (biblos/biblion = Buch/Büchlein). Der Begriff Bibliotherapie wurde 1916 von dem Pfarrer Samuel McChord Crothers geprägt. Heute sprechen wir mit diesem Begriff die therapeutische Anwendung von literarischen Gattungen im weiteren Sinne an. Martin Munzel und Friedhelm Duda (2025) schreiben in ihrem Handbuch Bibliotherapie: «Bibliotherapie ist Lesen, dass sich in einer Krankheit oder Krise als heilsam oder hilfreich erweist und bewährt.» Duda benutzt bevorzugt den Begriff des therapeutischen Lesens, da dieser klarer und deutlicher vermittelt, was gemeint ist. Lesen bedeutet hier eigenes Lesen, Vorlesen und Zuhören. Es geht um zwischenmenschliche Zuwendung durch das gemeinsame (Vor)Lesen und Besprechen von Texten. Immer bekannter wird diesbezüglich das Shared Reading, welches seinen Ursprung in Liverpool hat.
Eine therapeutische Anwendung ist dann erfolgreich, wenn ihr Inhalt und ihr methodisches Vorgehen zu einer Verbesserung der Selbstbefähigung sowie des Befindens des Einzelnen führen. Hierzu muss berücksichtigt werden, was ein Mensch in einer Krise oder in einer Krankheit braucht, was sein Leiden ist, um dann Überlegungen anstellen zu können, welche Leseinhalte heilsam sein könnten. In der Integrativen Poesie- und Bibliotherapie kennen wir das ISO-Prinzip (griech.: „isos“; dt: „gleich“). Bei diesem Prinzip geht es darum, dass die ausgewählten Texte thematisch eine Nähe zu dem haben, bzw. dem gleichen, was im Leben des betroffenen Menschen vor sich geht. Des Weiteren ist von grosser Wichtigkeit, dass die Texte nicht einfach nur beschreibend und diagnostizierend sind, sondern, um im bibliotherapeutischen Sinne wirksam zu sein, müssen sie z.B. Wege des Umgangs mit Krisen und Krankheit aufzeigen, Perspektiven(wechsel) ermöglichen, ermutigen und Hoffnung spenden, lebensbejahend sein und zur Sinnfindung im Leid anregen. Texte können nämlich auch belastend sein, demotivieren und zur Nachahmung von destruktivem Verhalten anregen.
Aus dem Spektrum der möglichen Anwendungsbereiche möchte ich mich in diesem Artikel auf Überlegungen zur Bibliotherapie mit gehemmten Menschen beziehen, bzw. Menschen, die es gelernt haben, das eigene individuelle Sein zu unterdrücken. Sei dies aus Angst, Scham oder Selbstablehnung und prekär niedrigem Selbstwertgefühl heraus. Viele dieser Aspekte kommen im klinischen Zustandsbild der Depression zum Tragen. Vielen Menschen (nicht allen), die von Depression wie auch Angststörungen betroffen sind, fehlt der Zugang zur eigenen Wut. Diese ist meist stark unterdrückt und abgespalten, oder auf das eigene Selbst gerichtet, was in der Konsequenz den Selbstwert senkt. Oft besteht dann auch kein Recht mehr auf die Wut, den Frust und die Unzufriedenheit, da man ja selbst Schuld hat. Ein Bedarf solcher Menschen liegt im gelingenden Bezug zu den eigenen Gefühlen und der produktive Umgang mit ihnen. Heilsam heisst hier in meinem Verständnis, dass eine innere Einigung auf das Zulassen von unangenehmen Gefühlen erreicht wird, aus der dann wiederum mehr Selbstzufriedenheit erwachsen kann, da eine grössere Übereinstimmung mit dem eigenen Selbst möglich wird. Heilsam heisst für mich nicht zwingend «es lässt mich wieder gut drauf sein». Sicherlich geht es um Wohlbefinden, jedoch kann sich der Weg zu diesem Wohlbefinden unterschiedlich gestalten und führt oft erst zur konstruktiven Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensthemen.
In einem meiner Module der Integrativen Literaturtherapie (ILT), nutze ich Texte, bei denen es um den Ausdruck von Wut und Frust geht. So nutzen wir zum Beispiel einen Text von Armin Sengbusch (Kabarettist, Musiker, Autor), den er im Buch «Vom Buffet der guten Laune nehme ich die sauren Gurken» veröffentlicht hat – die Texte in diesem Buch sind allesamt von psychischer Erkrankung (Depression) betroffenen Menschen aus dem Comedy Gewerbe geschrieben. Dieser Text heisst «Menschen sind seltsam» und transportiert viel Frust und Aggression. In der Besprechung des Textes leite ich dahingehend an, dass die Teilnehmer über Menschen, von denen sie genervt sind, schreiben, Karikaturen zeichnen und diese Texte und Bilder dann auch in der Gruppe teilen. Für viele ist es befreiend, wenn sie es sich erlauben ihren Frust und ihre Wut zu vertexten und dann auch auszusprechen. Wir dürfen hier durchaus von Aggressionsmanagement sprechen.
Auch in Thomas Manns kurzer Erzählung «Anekdote», bei der es um den trügerischen Schein von idealisierten Menschen geht, kommt der Ausdruck von Frust und Wut zum Tragen. Der Bankdirektor Ernst Becker, der als still, höflich und nicht bedeutend beschrieben wird, erträgt irgendwann die fortlaufenden «Huldigungen des Neids» anderer, bezüglich seiner Frau, welche von Männern wie Frauen geradezu vergöttert wird, nicht mehr. Bei einem erneuten Gesellschaftsabend der Beckers platzt ihm der Kragen und er spricht seine Wahrheit schonungslos aus und zerstört somit – jedoch nur scheinbar – das verklärte Idealbild von seiner Gattin. Es ist mir in der Arbeit mit solchen Texten wichtig, die Fähigkeit zu fördern, die eigene Wahrheit aussprechen zu können und die eigenen Empfindungen anzuerkennen, sowie einen für sich stimmigen Weg zu finden, diese Wahrheiten zu kommunizieren.
Weitere Texte, die mir für diesen Zweck vorschweben sind «Der Kontrabass» von Patrick Süsskind und Fjodor Dostojewskis «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch». Süsskind erschafft hier, im Vergleich zu Dostojewski, ein ironisch-kabarettistisches Bild eines desillusionierten Kontrabassspielers, der sich bei einem Bier einem Zuhörer gegenüber auslässt, was seine eigene Lebensunzufriedenheit angeht. Es ist eine bittersüsse Homage an ein scheinbar nicht gelungenes Leben. Dostojewski hingegen zeichnet das Bild eines Wutbürgers, der gnadenlos mit der Gesellschaft in der er lebt abrechnet. Seine Aufzeichnungen sind seine Rache. In einem erbitterten monologischen Ringen geht er die Welt und sein Scheitern in ihr an. Diese Werke können sicherlich hilfreich sein, um Selbstreflektion zu fördern und somit auch Selbstbezug zu schaffen. Eine Gefahr bei dieser Lektüre besteht allerdings darin, dass zynische Tendenzen und auch externalisierendes Denken und Verhalten angeregt werden. Wie bei allen Texten, braucht es auch hier eine sorgfältige Abwägung, wem diese Lektüre angeboten wird und auch, wie sie sinnvoll reflektiert werden kann.
Ich halte es für missverstanden, dass Texte, die therapeutisch angewendet werden «immer gut ausgehen» müssen. Das Leben ist durchmischt von Erfolgen und Misserfolgen, Glück und Unglück, Genuss und Leid – es geht nicht immer gut aus. Ich denke, dass literarische Texte im therapeutischen Kontext eine Hilfe zur Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen bieten sollen. Dies kann auch bedeuten, dass ein Text anregt, sich mit etwas Unveränderbarem wie z.B. einem permanenten Verlust zu arrangieren, ohne dass zwingend eine glücksverheissende Chance daraus erwächst. Die Fähigkeit zur (radikalen) Akzeptanz kann hier schon heilsam sein. Was nicht heisst, dass aus einem Unglück nicht auch etwas Schönes und Gutes erwachsen kann, das sprichwörtliche Glück im Unglück. Zu bedenken ist hier, dass in therapeutischen Kontexten eine Kultur der toxischen Positivität entstehen kann, ein zwanghaftes Fokussieren von positiv bewerteten Denkweisen und Geisteshaltungen, welche keine Negativität zulassen. Aber auch das Negative gehört zum Leben und verdient seinen Platz. Es kann heilsam sein, wenn Menschen erleben dürfen, dass ihre Stimmung, ihr Niedergeschlagen-Sein eine Berechtigung hat und nicht automatisch eine fehlerhafte Verarbeitung von Lebensereignissen bedeutet, oder einzig ein vermeintliches Ungleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn. Anstatt, dass Menschen in einer vermeintlichen Fehlerhaftigkeit verharren, können solche Texte, wie die besprochenen, einen hilfreichen Perspektivenwechsel ermöglichen und Menschen in dem Sinne ermutigen, als dass sie aufzeigen, dass das Verbalisieren von Wut und Frust auch wenn kein angenehmer, jedoch ein wichtiger Teil der menschlichen Entwicklung ist.







